Biographie – Editions Leduc

Biographie – Editions Leduc

 

Henri TOMASI wurde am 17. August 1901 in Marseille als Sohn korsischer Eltern geboren. Der EinfluB seines Vaters, Xavier Tomasi, der sich nicht nur als Amateurflötist betätigte, sondern auch in der Volksmusikforschung Pionierdienste leistete (mit der Veröffentlichung der Liedsammlungen Corsica und Chansons de Cyrnos), war bestimmend für seine musikalische Laufbahn. Die Verwurzelung im Mittelmeerraum ist das hervorstechende Merkmal ebenso des Menschen wie auch seines Werkes. Korsika, die „Insel des Lichts” der Wildheit und der Leidenschaft, Marseille, der Hafen, wo der Traum von Afrika und dem Fernen Osten in greifbare Nähe riickt, und die von der „heidnischen Schönheit der Antike” durchdrungene Provence, sie prägten ihm unauslöschliche Eindriicke ein. Der junge Henri Tomasi besuchte das Konservatorium seiner Vaterstadt, wo er in kiirzester Zeit Erste Preise in Solfeggio, Klavier und Harmonielehre errang. Die Bediirftigkeit seiner Jugendzeit – auf die auch sein unerschiitterlicher Gerechtigkeitssinn zurückging – zwang ihn, bereits ab dem 15. Lebensjahr als Pianist in den ersten, sich gerade etablierenden Kinos aufzutreten; die dabei gezeigte Improvisationskunst offenbarte seine Begabung für die Komposition.

Ein Stipendium der Stadt Marseille und die Unterstiitzung durch einen Gönner, den Rechtsanwalt Maître Lévy-Oulman, ermöglichten es ihm, seine Studien am Pariser Conservatoire fortzusetzen, wo er Schüler von Charles Silver (Harmonielehre), Georges Caussade (Kontrapunkt und Fuge), Paul Vidal (Komposition), Vincent dTndy und Philippe Gaubert (Dirigieren) wurde. 1927 erhielt er gleichzeitig den Rompreis und in einstimmiger Entscheidung den Ersten Preis in Dirigieren. Er begann alsbald seine Dirigentenkarriere bei den Concerts du Journal und in einer der ersten in Frankreich gegründeten Radiostationen, Radio-Colonial (1931); zur gleichen Zeit setzte er sich als Komponist mit drei Sinfonischen Dichtungen durch: Cyrnos (1929), im Jahr seiner Heirat mit der Zeichnerin und Malerin Odette Camp geschrieben, Tam-Tam (1931) und Vocero (1932). 1932 trat er der Gruppe für zeitgenössische Musik TRITON bei, zu deren Ehrenmitgliedern Ravel, Roussel, Schmitt, Strawinsky, Bartok, Enescu, de Falla, Schönberg und Richard Strauss zählten. Nachdem er die bedeutendsten Klangkörper Frankreichs und Europas dirigiert hatte und von 1946 bis 1952 erster Dirigent der Opern von Monte-Carlo und Vichy gewesen war, zog er sich 1956 vom Podium zuriick, einesteils einer Schwerhörigkeit wegen, die seinen ganzen Lebensabend verdiisterte, andernteils um sich gänzlich der Komposition widmen zu können. Über der Arbeit an einem a-capella Arrangement seiner Chants populaires de l’Ile de Corse starb er am 13. Januar 1971 in Paris, der Stadt, die er sein ganzes Leben lang als eine Art Exil empfunden hatte.

Sein iiber 120 Kompositionen umfassendes Œuvre, das sich in den Bereichen der Musikdramatik und der Symphonik als gleichermassen reich und vielfältig erweist, wurde 1952 mit dem Grand Prix de la musique française der SACEM und 1960 mit dem Grand Prix musical de la Ville de Paris ausgezeichnet. Von den über zwanzig hochvirtuosen Konzerten seien hier nur die für Trompete (1948), Saxophon (1949), Bratsche (1950), Klarinette (1956), Posaune (1956), Violine (1962), Flöte (1965), Harfe (1966) und Gitarre (1966) „gewidmet dem Andenken an einen ermordeten Dichter, F.G. Lorca” genannt. Tomasis Liebe zum Gesang, zu Tanz und Theater und sein Interesse an der grossen Literatur haben ihn zu Meisterwerken inspiriert, in denen nicht nur die deutlich kontrastierenden Phasen seines eigenen Lebens zum Ausdruck kommen – sinnliche Erregung, mystische Suche, schliesslich humanistisches Engagement waren die einander folgenden Leitmotive -, sondern von dencn einige auch deutliche Reflexe auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts darstellen: Don Juan de Mañara (oder Miguel Mañara, Oper nach den Mystère von O.V. de Lubicz-Milosz (1944) seinem Sohn Claude gewidmet, hieraus die Fanfares Liturgiques), das Requiem pour la paix (1945), L’Atlantide (nach Pierre Benoît, 1951), Triomphe de Jeanne (nach Philippe Soupault, 1955), Le Silence de la Mer (nach Vercors, 1959), La chèvre de Monsieur Seguin (nach A. Daudet, 1962), L’Éloge de la Folie (nach Erasmus von Rotterdam, 1965), Retour à Tipasa (nach Albert Camus, 1966), die Symphonie du Tiers-Monde en hommage à Berlioz (nach Aimé Césaire, 1967).

Henri Tomasi, den Emile Vuillermoz einmal einen „Musiker von proteushafter Wandelbarkeit” nannte, hat eine musikalische Sprache entwickelt, die untrennbar mit der mediterranen Zivilisation verknüpft ist: empfîndungsreich, farbig, mit Licht und Schatten spielend und voller melodischer Wärme, erregt sie Geist und Sinne gleichermassen. Treffend hat der Musikwissenschaftler Frédéric Ducros bemerkt: „Tomasi wusste die musikalischen Ressourcen seiner Zeit zu nutzen, ohne sich einem System zu verpflichten; und die Inspiration – mögen die Dekadenten sie als fundamentalen Wert auch leugnen – geht in ihrer permanenten Selbsterneuerung mit einem orchestralen Reichtum einher, der ihn zu einem der grossen Virtuosen dieses Faches nach Ravel macht.”

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